1995: Nürnberger Seite: "Flohzirkus-Tradition geht weiter": Schausteller Hans Mathes führt mit Europas letztem Flohzirkus eine rund 150jährige Tradition fort.
Nürnberger Dompteur steht auf der „Wies´n“ in der ersten Reihe
Wer Jahrmarktsluft wie in alten Zeiten schnuppern will, kann einen Hauch davon auf dem Münchner Oktoberfest erleben: Nur dort ist noch regelmäßig ein Flohzirkus zu sehen, der inzwischen der einzige und letzte seiner Art ist — zumindest in Europa und Amerika. Direktor, Dompteur und Conferencier in einem ist der Nürnberger Schausteller Hans Mathes.
August der Starke zieht ein 35 Gramm schweres Karussell
Fritz lädt eine Kanone, ein Ballkünstler zielt aufs Tor wie weiland Kaiser Beckenbauer. Dazwischen treten Jongleure auf, Franz-Josef mit der Bayernfahne und Tänzerinnen. Und ein paar Kraftmeier lassen hübsche Kutschen Revue passieren: Im Geschirr von nur 0,1 Millimeter dicken Spezialdrähten schuften die Flöhe wie Berserker. Gerade mit bloßem Auge zu erkennen, wuchten die sprungkräftigen Tierchen ein vielfaches ihres Körpergewichts nichts durch die Manege. Während einer zehnminütigen Vorstellung verlieren sie dabei die Hälfte ihres Gewichts.
Auch Hans Mathes hat alle Hände voll zu tun: Mit Lupe und Pinzette holt er aus Dutzenden von Schachteln die liebevoll gestalteten Requisiten im Miniaturformat — allesamt natürlich Handarbeit aus unterschiedlichen Epochen der rund 150jährigen Geschichte des Familienbetriebs — hervor und spannt seine winzigen Artisten ein.
Der Flohzirkus ist seit 1948 auf der „Wies'n"
Noch Hans Mathes' Vater hatte einen verständnisvollen Chef, der dem Schausteller Gelegenheit gab, nachmittags auf die Jahrmärkte zu ziehen. Der Sohn kann — trotz aller Debatten um die Flexibilisierung der Arbeitszeiten — nicht mit soviel Rücksicht rechnen. Der gelernte Brunnenbauer war als einziger bereit, die Tradition weiterzuführen, muss dafür aber seinen Urlaub aufbringen. Auf der „Wies'n" war sein Vater das erste Mal 1948 vertreten; für Hans Mathes ist es inzwischen das einzige Fest, auf dem er noch auftritt. Sein Wagen steht dabei Jahr für Jahr in der ersten Reihe auf der Ostseite des Platzes. In Nürnberg waren ihm zuletzt nicht nur die Standgebühren zu hoch; außerdem wäre die Zeit zwischen den beiden Terminen zu kurz zum Ab- und Aufbau. Schließlich gelingt es ihm heute auch kaum noch, genügend Tiere aufzutreiben, um eine ganze Saison hindurch auf Tournee zu gehen.
Sechs Wochen Training brauchen die Floh-Artisten
Für das 16tägige Gastspiel in der Landeshauptstadt benötigt der 48jährige Nürnberger rund 200 Insekten. Zwei Monate vorher besorgt er sie sich in Tropeninstituten und ähnlichen Einrichtungen, Rund sechs Wochen benötigt er für das Training. Wie er den Flöhen die Kunststückchen beibringt, bleibt Berufsgeheimnis. Nur soviel verrät er: Licht und Schatten spielen eine Schlüsselrolle bei der Dressur. „Denn Licht mögen sie nicht", erklärt er.
Geeignet sind nur Floh-Weibchen
Geeignet sind nur Tierchen, die mindestens ein halbes Jahr alt sind und ihre Eier abgelegt haben — Weibchen sind kräftiger und doppelt so groß wie die Männchen. Nach jeder Vorstellung sind die jeweils sieben bis neun Akteure erst einmal erschöpft, und eine neue Garnitur tritt an. Alle drei Stunden ist „Raubtierfütterung", wie der Schausteller aus St. Leonhard das nennt: Er setzt die Tiere auf seinen rasierten Arm und lässt sie an seinem Blut naschen.
Vater und Großvater hatten eine eigene Floh-Zucht
Sein Vater und Großvater hatten dazu, solange sie noch eine eigene Zucht betrieben, zwei große Eimer benutzt, in die sie ihre Füße stellten. „Den Einstich spürt man zwar, aber wenn man ruhig hält und die Flöhe nicht stört, juckt es auch nicht, weil die Tiere ihr Sekret wieder mit heraussaugen", erläutert der Zirkuschef. Entwischt ist ihm noch keines, versichert er. „Ich fange alle wieder."